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Der gefährliche Trugschluss der deutschen Händler

Mit dem deutschen Lebensmittelhandel ist es wie mit dem berühmten gallischen Dorf in den Asterix-Comics: Während draußen eine römische Armee namens Digitalisierung die gesamte Welt unterwirft, scheint das Leben im Dorf einfach weiterzugehen wie bisher. Während Buchhändler, Kaufhäuser und Schuhfilialisten unter der Übermacht der Online-Konkurrenz leiden, tun die Supermarktbetreiber so, als gehe sie das alles nichts an. Edeka werkelt mit begrenztem Eifer an verschiedenen Einzellösungen; Aldi modernisiert lieber seine Filialen, als Geld in E-Commerce zu stecken; Kaufland, Lidl und Rewe drosseln nach ersten Erfahrungen den Ausbau ihrer Lieferdienste bereits wieder. Lediglich Real versucht, digital durchzustarten – weil sich das traditionelle Großflächengeschäft wohl nicht mehr retten lässt.

Kay Hafner hat mehr als 20 Jahre Management-erfahrung im Handel und in der Konsumgüter-industrie, unter anderem war er Deutschlandchef von Wal-Mart. Er ist Inhaber der Hafner & Cie. Digital Change And Strategy GmbH, Essen , die sich auf die digitale Transformation von Mittelständlern spezialisiert hat.

Vordergründig haben die Verantwortlichen sogar recht mit ihrer Zurückhaltung. Marktexperten gehen davon aus, dass der Online-Handel mit Lebensmitteln in Deutschland bis 2025 einen Marktanteil von 3 bis 5 Prozent erreichen wird – viel weniger, als Digitalisierungsexperten ursprünglich erwartet hatten. „Click & Collect“ erweist sich als zu umständlich für den Kunden, das Liefergeschäft, tausende Pick-up-Points und spezielle Briefkästen für die Abholung von Ware bescheren dem Handel momentan nur Verluste und sind vermutlich auch mittelfristig für Lebensmittel keine echte Alternative zum Supermarkt. Hinzu kommt, dass kein anderes Volk beim Einkaufen von Lebensmitteln so knauserig ist wie die Deutschen. In der Heimat von Aldi und Lidl ist die Zahl derjenigen, die bereit sind, für mehr Service auch mehr Geld auszugeben, deutlich kleiner als anderswo.

Gerade den Discountern droht Gefahr

Daraus allerdings den Schluss zu ziehen, dass in Deutschland ohnehin alles anders ist als in anderen Märkten und der Online-Handel mit Lebensmitteln für immer eine zu vernachlässigende Nische bleiben wird, ist ein gefährlicher Trugschluss. Denn der Marktführer in diesem komplizierten Segment heißt Amazon Fresh – und der marschiert unverdrossen weiter und investiert hohe Summen. Die Verknüpfung von Fresh, Prime und Alexa sowie zahlreiche Partnerschaften mit starken Marken und Logistikern eröffnen vielfältige Synergien. Gerade hat der US-Konzern in Seattle einen vollelektronischen Supermarkt eröffnet und damit gezeigt, dass er auch vor dem stationären Geschäft nicht zurückschreckt.

Amazon hat schon mehrfach bewiesen, dass es die letzte Meile bis zum Kunden besser als alle anderen organisiert. Das wird auch im digitalen Lebensmittelgeschäft so sein. Die jüngste „Handelsmonitor“-Studie zu „Food Online“ geht davon aus, dass sich mehr als 80 Prozent der Kunden quer durch alle Altersgruppen vorstellen können, nahezu alles online zu kaufen – vorausgesetzt der Bestellvorgang funktioniert gut und die Logistik wird perfekt gemanagt. Das Ibi Research Institut rechnet damit, dass bis 2023 schon 20 Prozent des gesamten Handels in Deutschland online abgewickelt wird.

Vollsortimenter wie Amazon gehen dabei ganz anders an das Thema heran als die traditionellen Supermarktketten. Denn im Gegensatz zu Rewe oder Edeka kann Amazon eine Mischkalkulation fahren und den Lebensmittelbereich über lange Zeit aus anderen Handelssegmenten quersubventionieren. Darüber hinaus belegen aktuelle Studien, dass gerade die Bezieher niedriger Einkommen den Online-Einkauf schätzen. Insofern könnte die vorsichtige Haltung insbesondere der Discounter eine strategische Fehleinschätzung sein.

Die Eigentümerstruktur schützt nicht mehr

Die deutschen Lebensmittelhändler stecken in der Zwickmühle. Zum einen wird der Durchbruch des Online-Handels noch eine Weile auf sich warten lassen. Derweil werden die Preise niedrig bleiben, die Discounter weiter wachsen. Und da alle maßgeblichen Anbieter entweder Genossenschaften oder Familienunternehmen sind, gibt es keinen Druck der Börse, der einen Paradigmenwechsel erzwingen könnte. Notwendig ist er trotzdem.

Denn auf der anderen Seite bedrohen mächtige Rivalen das bisherige Geschäftsmodell von Rewe, Aldi und Co. Die Big Five der Digitalisierung – Apple, Google, Amazon, Facebook und Microsoft – haben genug Geld, um jeden Händler der Welt zu kaufen und auch einen ruinösen Wettbewerb über Jahre durchzuhalten. Die Marktkapitalisierung dieser Unternehmen ermöglicht Investitionen in die Perfektionierung der Logistik, des Sortiments und der Zahlungsabwicklung über das Smartphone, die traditionelle Händler sich nicht leisten können. Selbst wenn in den kommenden fünf Jahren nur knapp 5 Prozent des Food-Geschäfts und etwa 20 bis 25 Prozent des Non-Food-Sortiments online verkauft werden, hat dies gravierende Auswirkungen auf die Kostenstruktur und Investitionsfähigkeit des Handels. Auf echte Abwehrschlachten gegen digitale Riesen sind unsere Old-Economy-Unternehmen weder von den Ressourcen noch von der Führungskultur vorbereitet.

Deshalb gilt es, die Zeiten relativer Stabilität, die wir in den nächsten Jahren noch haben werden, zu nutzen, um Digitalisierung auf allen Ebenen zu lernen und auszuprobieren. Ob neue, weniger hierarchische Führungsstrukturen, digitale Prozesse vom Einkauf bis zur Vertriebssteuerung oder zielgruppenspezifisches Marketing über Social-Media-Kanäle: Jetzt ist die Zeit, Erfahrungen auf den Gebieten zu sammeln, die man in einigen Jahren zwingend beherrschen muss, um dem zu erwartenden Angriff der Digitalkonzerne standzuhalten.

Die letzte Meile entscheidet

Die Königsdisziplin, die alles entscheidet, ist die letzte Meile. Dieses Feld darf man nicht Amazon oder anderen digitalen Anbietern überlassen, sondern muss bereits jetzt über Logistikpartner und eigene Tests den Zugang zum Endkunden erschließen. Mindestbestellmengen und Logistikaufschläge wird es in Zukunft nicht mehr geben, deshalb sollte sich jeder Händler bereits heute vor Augen führen, wie eine wettbewerbsfähige Kostenstruktur in Zukunft aussehen muss – und wie man schrittweise dorthin kommt.


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Schon heute ist absehbar, dass die Generationen, die in der digitalisierten Welt aufwachsen, das (mobile) Internet dazu benutzen, sich das Leben so einfach wie möglich zu organisieren. Windeln, Getränke, Konserven und Reinigungsmittel werden langfristig nur noch online verkauft werden, lediglich frische Produkte wie Obst und Gemüse, regionale Spezialitäten, Backwaren oder Fleisch werden weiterhin gerne über Haptik und Optik gekauft – aber dann brauchen Lebensmittelhändler deutlich kleinere Läden, mehr Erlebnis- und Gastronomieangebote, die Lust aufs Verweilen machen. Es müssen völlig neue Laden-Layouts erprobt und die Sortimente umgebaut werden. Das regelmäßige Screening des Marktes nach neuen digitalen Anbietern und Herausforderern muss selbstverständlich werden. Denn jeder neue Angreifer ist für die junge Generation zunächst einmal spannender als jeder etablierte Händler.

Noch werden im Lebensmittelgeschäft gute Geschäfte gemacht und auskömmliche Erträge erzielt. Das gilt es zu nutzen. Facebook geht in internen Planungen davon aus, dass innerhalb von fünf Jahren der Online-Handel einen Marktanteil im Lebensmittelgeschäft von 20 Prozent erobern wird. Das sollte allen Marktteilnehmern verdeutlichen, was der Branche bevorsteht. Statt auf einen Zaubertrank zu hoffen, sollten die Gallier des deutschen Lebensmitteleinzelhandels vielleicht besser das Motto verinnerlichen, das über dem Eingang zur Facebook-Zentrale steht:

WHAT WOULD YOU DO IF YOU WEREN’T AFRAID ?

Der Artikel ist im manager magazin zu sehen.

Januar 24, 2018 Category: Online Magazine

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